Die Prekarisierung von Rom:nja in Nordsachsen
Erschienen in: Leipziger Zustände. chronik.LE. Dokumentation und Analyse faschistischer, rassistischer und diskriminierender Ereignisse in und um Leipzig. Januar 2021, S.21-24
von Harika Dauth
Deutschland ist nach den USA und Saudi-Arabien das „drittbeliebteste“ Einwanderungsland der Welt. Menschen aus fast 200 Ländern leben und arbeiten hier. Nach Sachsen zieht es im bundesweiten Vergleich bislang aber noch immer wenige Zuwanderer:innen. Während in Bayern und Nordrhein-Westfalen der Anteil von zugewanderten Menschen im Rahmen internationaler Flucht und Migration beispielsweise bei gut zwölf Prozent und in Hessen sogar bei 15 Prozent liegt, beträgt er in Sachsen nur vier Prozent, die sich hauptsächlich auf Leipzig, Dresden und Chemnitz verteilen. [1]
Eine Ausnahme bildet das nordsächsische Torgau, gelegen am westlichen Ufer der Elbe. Auf rund 20,000 Einwohner:innen kommen hier zehn Prozent Zuwander:innen [2]. Etwa ein Viertel von ihnen sind EU-Bürger:innen, Angehörige der Roma, mehrheitlich aus der Slowakei. Sie leben in einer Plattenbau-Siedlung im Nordwesten der Stadt, um den viele Torgauer:innen einen Bogen machen, weil sie dort Chaos und Kriminalität vermuten. Wieso verschlägt es diese Menschen ausgerechnet nach Torgau, einer AfD-Hochburg in Sachsen?
Der Grund liegt in Mockrehna, einem kleinen Ort 15 Kilometer südwestlich von Torgau, und heißt Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost Produktions GmbH. Die Hühnerfabrik ist eines der größten und ertragreichsten Unternehmen der Region. Im Sommer läuft hier die Grillfleischproduktion auf Hochtouren, ganz zum Wohl der Fleischverzehrer*innen, die das Fleisch für wenig Geld im Discounter kaufen können. Und davon gibt es in Sachsen einige. Laut dem Fleisch-Atlas Regional der Heinrich-Böll-Stiftung wird in kaum einem anderen Bundesland so viel Fleisch verzehrt wie hier.[3]
Durch Verwandte, Bekannte oder Mittelsmänner hören Menschen in der Slowakei, aber auch in anderen osteuropäischen Ländern wie Rumänien und Bulgarien, dass es in Torgau und Umgebung Arbeit gibt. Vor allem auch für Rom:nja zunächst eine gute Nachricht. Denn in diesen Ländern finden sie oftmals aufgrund von strukturellem Rassismus im Bildungs- und Jobsektor keine oder nicht ausreichend Arbeit, um ihre Familien angemessen versorgen zu können. In der Hoffnung, endlich Arbeit zu finden und ihre Kinder auf Schulen schicken zu können, die ihnen einen besseren Bildungsstand ermöglichen als zu Hause, beschließen die Menschen, ihren Wohnsitz zu wechseln und nach Torgau zu kommen.
Die Zuwanderung in den sächsischen Arbeitsmarkt liegt auch im Interesse von Gräfendorfer. Im vergangenen Jahr teilte der Geschäftsführer der Hühner-Fabrik mit: „Wir sind auf Arbeitskräfte aus den europäischen Mitgliedsstaaten angewiesen. Zahlreiche Arbeitgeber in Nordsachsen werden künftig um eine gezielte Zuwanderung nicht herumkommen.“[3] Dementsprechend schnell finden die Zuwanderer:innen nach ihrer Ankunft in Nordsachsen auch Zugang zu der Hühnerfabrik. Angestellt sind sie dabei in der Regel als Arbeiter:innen bei Sub-Unternehmen. Die Angestellten dieser Verleih-Firmen sind durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) hauptverantwortlich für die Leiharbeiter:innen aus Osteuropa: Sie schreiben die Arbeitsverträge, legen die Arbeitsbedingungen fest, verhandeln Urlaubszeiten und Vorschusszahlungen. Für die osteuropäischen Arbeiter:innen, die kaum oder kein Deutsch sprechen oder nur wenig lesen und schreiben können, ist der Inhalt ihrer Arbeitsverträge aber nicht immer klar. Ob sie einen befristeten oder unbefristeten Vertrag haben, wissen sie oft nicht. Einschlägige arbeitsrechtliche Inhalte kennen sie nicht. Woher auch? Sie sind gerade erst angekommen oder maximal seit einigen Jahren hier. Ihnen geht es darum arbeiten zu können, um das Leben ihrer Familien abzusichern. Doch genau das ist oft gar nicht möglich, weil sie ihre Arbeit innerhalb kürzester Zeit wieder verlieren. Wie ist das möglich?
Arbeit:innen werden beispielsweise krank, bekommen aber beim Arzt keinen Termin, weil in Torgau chronischer Ärztemangel herrscht. Oder Sprechstundenhilfen herrschen sie am Telefon an: „Wir können ja hier nicht ganz Nord-West aufnehmen!“ Die Behandlungspflicht scheint hier keine Rolle zu spielen. Durch den Ärztemangel und den strukturellen Rassismus der Arztpraxen ist es den Arbeiter:innen oft unmöglich, einen Krankenschein zu bekommen, woraufhin sie wegen unentschuldigtem Fehlens gekündigt werden.
Oft wird der Rausschmiss der Arbeitskräfte von den Firmen auch damit begründet, dass ihre Angestellten nicht pünktlich oder gar nicht zur Arbeit erscheinen. Tatsächlich kommt es ab und zu vor, da ein zuverlässiger Transport nicht immer gewährleistet ist. Den Weg zur Arbeit können die Arbeiter:innen eigentlich nur mit dem Auto zurücklegen, da die Schichten, die im Wochenrhythmus wechseln, zu Zeiten beginnen, zu denen die Züge noch nicht fahren. Das es keinen von den Firmen organisierten Transport zur Arbeitsstelle gibt, organisieren sich die Arbeiter:innen in Fahrgemeinschaften. Fahrer:innen dieser Fahrgemeinschaften sind Angehörige der Community mit Führerschein, die andere Angehörige der Community bei Bedarf zu Arbeitseinsätzen und anderen Terminen fahren. Fallen Fahrer:innen aufgrund von eigener Krankheit oder der der Kinder aus, gibt es oft keinen Ersatz, schon gar nicht in den frühen Morgenstunden. Arbeiter:innen, die auf die Fahrer:innen angewiesen sind, stehen dann ohne die Möglichkeit zur Arbeit zu kommen da. Und daraufhin in der Regel auch ohne die Möglichkeit, ihre Arbeit in der Firma fortsetzen zu können – oder eben mit einer Abmahnung. Das Problem könnte durch ein Shutter-Angebot der Firmen gelöst werden, welches die Firmen aber bislang nicht bereit sind, zur Verfügung zu stellen.
Frauen verlieren zusätzlich zu den aufgeführten Gründen ihre Arbeit, weil sie schwanger werden und von ihrem Kündigungsschutz-Rechten als schwangere Arbeiterin nicht Gebrauch machen, da sie diese in der Regel nicht kennen. Rechtsberatungsangebote werden kaum genutzt, zum Teil auch, weil sie nicht bekannt sind, zum Teil aus Angst davor, von den Arbeitgeber:innen nach Inanspruchnahme unter Druck gesetzt zu werden.
Andere Arbeiter:innen bitten ihre Vorgesetzten um einen Kurz-Urlaub, um zu Hause kranke Verwandte zu besuchen, was sie auch offiziell gewährt bekommen. Nachdem sie wieder da sind, wird ihnen mitgeteilt, dass sie nicht mehr zu kommen brauchen.
Ein besonders gravierender Fall ereignete sich in einem lokalen Dienstleistungsunternehmen in Torgau. Dort bekam eine langjährige Arbeitnehmerin, die immer wieder Schichten von kranken Kolleg:innen übernommen hatte, keinen Kurzurlaub gewährt, um zur Beerdigung ihrer Mutter in die Slowakei zu fahren. Als sie doch fuhr, wurde ihr gekündigt.
Wer nicht effektiv arbeitet, wer nicht mobil genug ist, wer krank wird oder Kinder bekommt, wer sich zu sehr um andere sorgt oder um eine nahe Angehörige trauert, wird geschasst. Die Firmen wollen so einen möglichst reibungslosen und ertragreichen Ablauf ihres Betriebes sicherstellen.
In der Regel geht der schriftlichen Kündigung eine mündliche Kündigung voraus. Der Vorgesetzte sagt der Arbeiter:in dann beispielsweise, dass er/sie morgen nicht mehr auf Arbeit kommen muss. Die schriftliche Kündigung greift aber aufgrund der Kündigungsschutzfristen erst Wochen später. Grundsätzlich können Arbeiter:innen bis ihre Kündigung bestandskräftig wird weiter ihren Lohn ausgezahlt bekommen. Allerdings nur, wenn sie nach der mündlichen Kündigung ihr Interesse anmelden, bis zum Datum der Kündigung weiterarbeiten zu wollen. Und das wissen höchstens diejenigen Arbeiter:innen, die sich im Arbeitsrecht auskennen oder Rechtsschutzberatung in Anspruch nehmen können. Die Betroffenen aus Osteuropa haben in der Regel weder Wissen noch Zugang, was zur Folge hat, dass sie von heute auf morgen keinen Lohn mehr bekommen. Wenn sie sich Hilfe bei Beratungsstellen holen, ist es oft schon zu spät.
Solange die Arbeiter:innen eine „gute“ Kündigung bekommen, z.B. eine „fristgerechte und ordentliche Kündigung“, können sie regulär Arbeitslosengeld beantragen. Das ist in Torgau aber eher die Seltenheit. Denn die dort wohnhaften osteuropäischen Arbeiter:innen bekommen in der Regel Aufhebungsverträge, die im rechtlichen Sinne gar keine Kündigungen sind. Vorteilhaft sind diese vor allem für die Firmen, die so keine Kündigungsfristen einhalten müssen. Inhaltlich beendet ein Aufhebungsvertrag das Arbeitsverhältnis einvernehmlich zwischen Arbeiter:in und der Firma. In den Aufhebungsverträgen der oben erwähnten Leiharbeitsfirmen steht, dass XY sein Arbeitsverhältnis freiwillig beendet, weil er einen anderen Arbeitgeber gefunden hat. Tatsächlich hat XY natürlich keinen neuen Arbeitgeber gefunden. Stattdessen sagt ihm der Arbeitgeber, während er ihm/ihr den Aufhebungsvertrag zum Unterzeichnen hinlegt: “Wir brauchen Dich die nächsten drei Monate erst mal nicht. Danach kannst du wieder arbeiten kommen.“ Die Arbeiter:innen, die auf die Arbeit angewiesen ist, weil es kaum Alternativen in und um Torgau gibt, geben ihr Einverständnis und unterzeichnen. In der Regel ohne den Inhalt zu verstehen, weil auch ein:e Dolmetscher:in nur selten eingesetzt wird.
Das hat zur Folge, dass XY bei seiner Arbeitslosmeldung bei der Agentur für Arbeit nach meistens längerer Wartezeit eine Bescheinigung ausgehändigt bekommt, auf der seine „freiwillige Arbeitslosigkeit“ attestiert wird. Dieses Schreiben bescheinigt den Arbeiter:innen, dass sie selbst schuld an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses seien. Das Thema der Selbstverschuldung, das hier von der Agentur für Arbeit ausgespielt wird, hat existentielle Folgen für die Betroffenen, denn mit der Schuldzuweisung folgt auch die Strafe: eine dreimonatige Sperre des Arbeitslosengeldes. Wenn die Betroffenen nach drei Monaten theoretisch Anspruch hätten, sind sie wieder in dem alten Arbeitsverhältnis, haben sich in der Zwischenzeit aber meist schon hochgradig verschuldet.
Zu Hause türmen sich in der Zwischenzeit Rechnungen, Abmahnungen und Räumungsklagen, in manchen Fällen ist der Strom bereits abgestellt. Wenn eine Familie ihre Wohnung verliert und obdachlos wird, gibt es keine Auffangstruktur für sie in Torgau. Die wenigen noch nicht wegrationalisierten Plätze für Obdachlose sind nur kinderlosen Erwachsenen vorbehalten. Droht einer Familie die Obdachlosigkeit, steht das Jugendamt vor der Tür – die Kinder dürfen ja nicht auf der Straße leben. In diesen Fällen verlieren die Betroffenen dann nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre Kinder. Bevor das passiert, machen sie sich lieber wieder auf den Heimweg. Eine neue Familie wartet schon auf die leer gewordene Wohnung. Sie brauchen dringend Arbeit. Das Schicht-System läuft weiter, die nächste Produktionsspitze kommt.
[1] Sächsische Landeszentrale für politische Bildung: Migration in Sachsen. Ausländische Mitbürgerinnen in Sachsen. Online: www.slpb.de
[2]Landratsamt Nordsachsen, Aktuelle Zahlen des Amtes für Migration und Ausländerrecht, Stand November 2019
[3] Fleischatlas Regional Sachsen, hg. von Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, 2015. Online: https://weiterdenken.de/sites/default/files/fleischbeileger_sachsen_web.pdf
[4]L-IZ-Melder vom 12.04.2019: „Hochbetrieb bei Gräfendorfer – Landrat besucht Unternehmen in Mockrehna“ [Online: https://www.l-iz.de/melder/wortmelder/2019/04/Hochbetrieb-bei-Graefendorfer-Landrat-besucht-Unternehmen-in-Mockrehna-269574]
Autorin:
Harika Dauth ist Sozialwissenschaftlerin und Mitarbeiterin des Verbandes der Roma und Sinti in Sachsen.